Das Zauberwort „Teilhabe“ – vom Missbrauch eines Begriffs

 „… sich gegenseitig Anteil geben an dem Nutzen, den jeder Einzelne für das Land bringen kann“ (Platon, Staat)

„ …ein jeder trage des anderen Last“ (GAL 6,2) 
Politiker und Verbände, verwenden in den letzten drei Jahren häufig den Begriff „Teilhabe“ – auch „Partizipation“ als Integrationsziel. Das hat seinen Grund: Hier geht es um Marketing, nicht um Politik.

Spielte der Begriff „Teilhabe“ um die Jahrtausendwende in der deutschen Integrationsdebatte noch kaum eine Rolle, so ist „Teilhabe“ heute anscheinend das Integrationsziel schlechthin.

In einem Interview mit dem Deutschlandradio Kultur vom 23. Mai 2011 drückte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, seinen Wunsch aus:
„Ich möchte auch über den Begriff Integration diskutieren, den ich abschaffen will. Natürlich heißt der Beirat so, aber ich denke, wir müssen darüber diskutieren. Denn dieser unbestimmte Begriff, sagt ja sozusagen erst den Migrantinnen und Migranten, ihr müsst euch einbringen.“

http://www.deutschlandradiokultur.de/kolat-partizipation-statt-integration.1008.de.html?dram:article_id=164023

Die tonangebenden Experten waren sich rasch einig:
Im „Nationalen Aktionsplan Integration“ vom Dezember 2011 äußert sich die Bundeskanzlerin:
„ … die Chancen der Vielfalt zu erkennen und zu nutzen. Gleiche Chancen auf Bildung und Aufstieg, auf persönliche Entfaltung, auf berufliche und gesellschaftliche Teilhabe …  Das ist es, worauf der gemeinschaftlich erarbeitete Nationale Aktionsplan zielt.“

http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/IB/2012-01-31-nap-gesamt-barrierefrei.pdf;jsessionid=8CE47B421B477F95B030092D3D615E69.s4t2?__blob=publicationFile&v=5

Und damit war der Begriff „Teilhabe“ in der Welt.

 „ … Die Gesellschaft müsse eine „bestimmte geistige Offenheit“ entwickeln. Merkel erklärt auch, der Begriff „Integration“ sei nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr gehe es um Teilhabe, Partizipation und Respekt …“ (28.05.2013)
http://www.welt.de/politik/deutschland/article116603780/Merkel-haelt-den-Begriff-Integration-fuer-veraltet.html


Das Zauberwort „Teilhabe“ kritisch betrachtet

„Teilhabe“ ist ursprünglich kein integrationspolitischer Wertbegriff. Es gibt finanzielle, arbeitsrechtliche, nukleare und andere Arten von Teilhabe, die mit der Integration von Menschen nichts zu tun haben. Was aber bedeutet es für die Integrationsarbeit, wenn „Teilhabe“ zum maßgebenden Ziel erhoben wird? Worin besteht der Inhalt dieses neuen Ziels?

„Teilhabe“ ist ein schillernder Begriff. Das beruht vor allem darauf, dass er dem Gefühl einen anderen Inhalt vermittelt als dem Verstand: Dem Gefühl nach kann „Teilhabe“ nur etwas Gutes sein. Das Wort „Teilhabe“ lässt an ein Teilhaben denken, auf das gerade auch Benachteiligte Anspruch haben, zum Beispiel ein Teilhaben am Arbeitsleben oder an Bildung. „Teilhabe“ spricht also vor allem das soziale Empfinden an. Und damit befördert dieses Wort die gefühlsmäßige Neigung, so ziemlich alles, was „Teilhabe“ genannt wird, freundlich zu befürworten – lange bevor der Verstand prüfen konnte, welcher Art die betreffende Teilhabe ist und ob sie Unterstützung wirklich verdient oder nicht.

Der Verstand kann dem Urteilsvermögen gegenüber dann nur noch mit Mühe geltend machen, dass „Teilhabe“ einen durchaus ambivalenten Inhalt hat, da es, neben legitimen, auch illegitime Arten von Teilhabe gibt, zum Beispiel Teilhabe an kriminellen Unternehmungen und ihren Erträgen.


Pflichtwerte und Selbstentfaltungswerte

Bei aller Vexierbildhaftigkeit des Begriffs „Teilhabe“ ist doch eines klar: Derjenige, dem „Teilhabe“ versprochen wird, erwartet in erster Linie, dass er etwas bekommt, was ihm Vorteil bringt, nicht, dass er etwas geben muss, was mit Anstrengung verbunden ist. Psychologisch gesehen, appelliert „Teilhabe“ zweifellos mehr an das menschliche Bedürfnis, eigene Interessen wahrzunehmen, als an die Bereitschaft, uneigennützig zu geben. „Teilhabe“ gehört, in der Begrifflichkeit der Soziologen gesprochen, nicht zu den „Pflichtwerten“, sondern zu den „Selbstentfaltungswerten“.

Und ein solcher Begriff soll die Richtung der Integrationsarbeit vorgeben?

Sollen Zuwanderer künftig nicht mehr über soziale und staatsbürgerliche Pflichten nachdenken und an ihre Erfüllung gewöhnt werden? Ist der vielzitierte Wertewandel schon so weit fortgeschritten, dass nun im Falle der Integration eine Abkehr von den Pflichtwerten erfolgen muss?


Die Unentbehrlichkeit des Gebens

Wer sich eingehender mit der Frage befasst, welche persönlichen Qualitäten in den kommenden Jahrzehnten gebraucht werden, wenn unser Kontinent eine Zukunft in Freiheit haben soll, wird die „Pflichtwerte“ bestimmt nicht klein schreiben.

Gerade die Finanzkrise der letzten Jahre liefert beispielsweise reichlich Anschauungsmaterial für die These: Wenn in einer Demokratie allzu viele Menschen so eingestellt sind, dass sie von ihrem Land vor allem etwas haben wollen – Teilhabe! –, und nur in geringem Maße bereit sind, ihm auch zurückzugeben, kann dieses Land kaum nachhaltig Erfolg haben!

Schon vor fast zweieinhalb Jahrtausenden formulierte Platon als Forderung für seinen Staat: Die Bürger müssten veranlasst werden, dass sie „sich gegenseitig Anteil geben (!) an dem Nutzen, den jeder Einzelne für das Land bringen kann“  (Staat, 519 E–520 A).

Seither wurde dieser Gedanke immer wieder neu formuliert.
Seine heute wohl bekannteste Fassung stammt von dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt!“ (Antrittsrede, 20.1.1961).

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Was steckt hinter der Umdeutung des Begriffs „Teilhabe“?

Die Frage, warum der Begriff „Teilhabe“ ausgerechnet im Zusammenhang mit der Integration von Zuwanderern auf diese Weise verfremdet wurde, muss sich vor allem an die verantwortlichen „Integrationsexperten“ und ihre Auftraggeber richten.

Die Unbekümmertheit, mit der der Begriff „Teilhabe“ in der Integrationspolitik installiert und umgedeutet wurde und wie er benutzt wird, ist erschreckend. Ob dieser Irrweg sich aus politischem Opportunismus oder aus fachlicher Inkompetenz erklärt, kann hier ausgeklammert werden.

Tatsache ist, dass die Verfälschung von Begriffen der zu beobachtenden Entwicklung entspricht, über politische Vernunft hinwegzugehen.

Längst gibt es Berater, die den Politikern Hilfen anbieten, wie sie das Publikum freundlich stimmen und wie sie Vorkehrungen gegen aggressive Reaktionen treffen können.

Der Bertelsmann-Ratgeber „Die Kunst des Reformierens“ (2009) empfiehlt für das „effiziente Management der öffentlichen Meinung“ eine „Sprache der Chancen und Möglichkeiten“; diese Sprache solle die „attraktiven Seiten des Reformergebnisses“ betonen, „Optimismus und Zuversicht“ erzeugen und alle Formulierungen vermeiden, die „schlechte Laune“ verursachen könnten (S. 30 f.). Bei der hier empfohlenen „Sprache der Reform“ drängen sich wohl nicht zufällig Parallelen zur Produktwerbung auf, die ja regelmäßig die Methode verfolgt, gesteigertes Wohlgefühl in Aussicht zu stellen und alles auszublenden, was an Pflicht oder Anstrengung erinnern könnte.

Somit ist der Aufstieg des attraktiven Begriffs ‚Teilhabe’ zum Integrationsziel und die Verdrängung der Pflichtwerte in einem größeren Zusammenhang erklärbar. Auch in der Bildungspolitik ist fortwährend von ‚Teilhabe“ die Sprache.


Einschüchterungseffekte in der Integrationsdebatte

Auf das Einfordern von Pflichtwerten folgen heute nicht selten aggressive Reaktionen.

Es ist gar mit heftigen Angriffen von Seiten bestimmter Teilnehmer der öffentlichen Debatte zu rechnen ist, wenn man moralische Verpflichtungen formuliert, von denen sie sich oder ihre mögliche Klientel betroffen fühlen.

Erfahrungsgemäß können solche öffentlichen Verbalattacken für die Angegriffenen gefährlich werden. Hier ist also immer mit einem beachtlichen Einschüchterungs-potential zu rechnen.


Die Folgen

Den Schaden hat unsere Gesellschaft.
Denn die Risiken, die mit der einseitigen Auslegung eigennutzorientierter Integrationsziele, wie „Teilhabe“ auf Kosten der Pflichtwerte verbunden sind, sind äußerst ernst.

Der Begriff „Teilhabe“, wie er in der Integrationspolitik gepflegt wird, ist ein typisches Beispiel dafür, wie Politik nicht einem höheren Sinn, also dem Wohl des Volkes dient, sondern einem niederen Zweck: Der Geschmack anstrengungsfeindlicher Meinungswächter soll sich durchsetzen.

Für eine politische Diskussion über den Begriff „Teilhabe“ gibt es also, auch wenn sie einigen ungelegen käme, gewiss gute Gründe. Es ist Zeit, dem Begriff kritische Aufmerksamkeit zu widmen und seinen Missbrauch zu entlarven.

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